Er hat in den 70er und 80er Jahren die untere Mittelschicht Amerikas und die Schicht darunter musikalisch verewigt: Bruce Springsteen oder – schon damals – „der Boss". Aufmüpfiger denn je kritisiert der Boss heute die Bosse weltweit: Auf seiner neuen CD „Wrecking Ball" (Abrissbirne) und der am Wochenende beginnenden Tour wettert er gegen unfähige, gierige und korrupte Politiker, Finanz- und Industrie-Manager.

Schon im Vorfeld der Tour, die den mittlerweile 62-Jährigen im (Früh-)Sommer auch nach Europa führen wird, prangerte der Boss in diversen Interviews soziale Ungerechtigkeiten an und wetterte kräftig gegen die Raffgierigen, Unfähigen und Korrupten dieser Welt. Er will wachrütteln und auf Misstände aller Art und die immer grösser werdende Kluft zwischen Arm & Reich aufmerksam machen – und schreckt dabei auch nicht vor heiklen Themen wie etwa der Kirche zurück. Viele Menschen haben sich bekanntlich weitgehend in ihre kleine, überschaubare Welt mit Familie, Freunden & Bekannten zurückgezogen – die Welt da draussen ist ihnen zu schnell, zu globalisiert & komplex, zu unberechenbar & korrupt geworden. „Rückzug ins Privat-Voyeuristische" nenne ich das gerne, bleibt doch nach dem Rückzug ins eigene „Gärtchen" viel Zeit fürs gemütliche Fernsehen. Diese Menschen will Bruce Springsteen wachrütteln und ihnen zurufen: „Es geht auch Euch an! Es liegt auch in Euren Händen, Euch zu engagieren und etwas an den aktuellen Umständen zu ändern."

Ein Kollege, der im Urlaub gerne mit einem alten Range Rover unwegsames Gelände erkundet, sagte kürzlich etwas resigniert zu mir: „Für mich sind die meisten Politiker wie Sand-Pneus: Schwabbelig & schwammig, kein Saft & keine Kraft, kein Profil – und eiern nur so im Zeugs rum ..." Man würde gerne widersprechen, denn schliesslich sollten sich Politiker für bessere Rahmenbedingungen für eine lebenswertere Gesellschaft einsetzen.

Davon ist allerdings wenig zu sehen auf den nationalen und internationalen Polit-Bühnen. Dort sehen wir vor allem „Politiker-Darsteller" aller Art, denen es vor allem um drei Kern-Anliegen geht: Ich, ich & nochmals ich.

Letzte Woche ist bekanntlich der über sich selbst gestolperte deutsche (Ex-)Bundespräsident Christian Wulff nach kurzer Amtszeit mit allerlei teuren & lebenslänglichen Annehmlichkeiten verabschiedet worden. Über diesen Fall ist (fast) alles gesagt & geschrieben worden. Die beste Analyse lieferte Claudius Seidl, Feuilleton-Chef der Frankfurter Allgemeinen Sonntags-Zeitung. Im Artikel „Der Streber" erklärt er am Beispiel von Christian Wulff einen Typus von Politiker, der sich vielerorts erschreckend stark verbreitet hat: Den Typus des Ehrgeizigen ohne Substanz, der nichts mehr zu bieten hat, sobald er einmal in Rücklage gerät.

Ein kurzer Ausschnitt aus dem Text von Claudius Seidl: „Wulff ist gestürzt darüber, dass er sonst nichts zu bieten hatte. (...) Als herauskam, dass auch er getrickst und getäuscht hatte, war da nichts, was er hätte entgegensetzen können: keine geistige und intellektuelle Substanz, keine gesellschaftliche oder politische Vision, um derentwillen das Volk dem Präsidenten seine bescheuerten Verfehlungen nachgesehen hätte. Als Wulff nicht mehr unschuldig war, war er gar nichts mehr. Nichts als ein Streber, der so lange Karriere machte, bis er endlich den Job hatte, dem er nicht gewachsen war."

Wie wahr. Wie wahr nicht nur für Wulff, sondern für so viele Politiker heutzutage – pardon, Politiker-Darsteller. Wenig Profil, wenig Substanz, wenig Visionen. Aber dafür jede Menge Verflechtungen mit der Wirtschaft, Verwaltungs-/Aufsichtsrats-Mandate bzw. Mandate generell und natürlich Lobbying in allen Varianten. Die meisten Politikerinnen & Politiker sind leider in allererster Linie Interessen-Vertreter, Handlanger von Finanz & Wirtschaft, die sich für gutes Geld vor (fast) jeden Karren spannen lassen. Und sich mit einem Trupp von Medien-Beratern & Profiteuren von Auftritt zu Auftritt, von Wahl zu Wahl hangeln. Die Aktivitäten einer Partei bzw. eines Politikers sind – neben der Verfolgung lukrativer privater Interessen jenseits der Kamera – längst auf die nächsten Wahlen ausgerichtet, aufeinander abgestimmt und mediengerecht in Szene gesetzt. Dabei sind Inhalte weniger wichtig als Schlagzeilen, süffige Storys und oberflächliche Emotionen.

Wenig Profil, wenig Substanz, wenig Visionen und wenig Engagement für eine lebenswertere Gesellschaft. Wen wundert es da, dass wir weniger eine Regierung haben als vielmehr eine Re-a-gierung.

Als Reaktion auf die aktuelle europäische Schulden-Krise hat die Satire-Sendung „heute-show" (ZDF) kürzlich folgende Lösung ins Spiel gebracht: „Nehmen wir doch einfach den Schulden-Berg und stopfen damit die Haushalts-Löcher – dann sind der Schulden-Berg abgetragen und die Haushalts-Löcher gestopft. Und alle sind zufrieden." Ja mei, man muss nur richtig re(a)gieren ...

Den Boss habe ich in den 90er und Nuller-Jahren musikalisch aus den Augen bzw. Ohren verloren. Aber ein kritischer Leuchtturm in Sachen wirtschaftlicher, politischer und sozialer Misstände ist er trotz über 120 Millionen verkaufter Tonträger noch immer, auch als Beinahe-Rentner im aktiven Unruhestand. „Born to Run" sang er schon 1975 – und er rennt noch immer ...